
Der Elagabal im Norden
Von Christian Lenau
Es dämmerte bereits, als der Reisende in dem kleinen Küstenstädtchen eintraf. Dichte Nebel waren vom Meer heraufgezogen und hatten sich über die Felder gelegt. Die abendliche Stille wurde einzig durch das gelegentliche Schnauben der Pferde unterbrochen, die nun, vom weiten Weg ermattet, ihre Köpfe hängen ließen und, langsam die Kutsche hinter sich herziehend, den Windungen der Straße folgten. Auf dieser Straße, die eigentlich nicht mehr als ein ausgetretener, halb von Heidekraut überwucherter Pfad war, hielt das Gespann schließlich an. Als die eisenbeschlagenen Räder der Kutsche zum Stehen kamen, nahm der Reisende Koffer und Mantel von der Rückbank des Wagens, zog sich den Hut ins Gesicht und trat aus der engen Kabine in die kalte Luft hinaus. Die einbrechende Dämmerung ließ die Landschaft vor seinen Augen zu einem starren Gebilde aus grauen Schemen verschmelzen. Die schwach erleuchteten Fenster der Stadt jenseits der grauen Stoppelfelder tanzten hinter den vom Himmel herabhängenden Nebelschwaden und funkelten lockend zu dem Fremden hinüber.
Nach einem kurzen Moment, in dem er innegehalten und zur Stadt hinübergeblickt hatte, näherte sich der Reisende dem hageren Kutscher, der steif auf dem Bock seines Gefährtes saß, zahlte ihn aus und ließ sich eine Laterne herunterreichen. Mit dieser gerüstet trat der Reisende einige Schritte zurück, bis er fast schon im Feld stand, erwiderte die knappen Abschiedsworte des Kutschers und beobachtete, wie dieser sein Gespann wenden ließ und davonfuhr. Erst als der Wagen in der Dunkelheit verschwunden war und das Knarren der Achsen wie das Schnauben der Pferde vom dicken Nebel verschluckt wurde und langsam verklang, wandte sich der Reisende wieder der Stadt zu und setzte sich in Bewegung.
Bald schon hatte er die düster in das über ihm wogende Wolkenmeer ragenden Häuser erreicht. Es waren brüchige Bauten mit kleinen Fenstern und steilen Dächern, die sich in unglaublichen Winkeln krümmten, als warteten sie nur auf den nächsten Sturm, der all ihre Schindeln fortfegen und die modernden Balken zersplittern lassen sollte.
Der Reisende trug seinen Koffer durch die leeren Straßen und hielt die Laterne vor sich erhoben, um die andrängende Dunkelheit fernzuhalten. So irrte er ziellos durch die engen Gassen, passierte steinerne Torbögen und stieg über feuchte Stufen hinauf zur Oberstadt, ging bergauf und wieder bergab. Irgendwann stieß er auf den Hafen und ging an den Quais entlang, an denen kleine Boote auf den schwarzen Wellen tanzten, die mit leisem Glucksen gegen die moosbewachsene Hafenmauer schlugen. Es war ihm als läge in der Brise, die vom Meer her wehte, ein verzweifeltes Jammern, das in seinen Ohren dröhnte wie die Schreie eines Kindes.
Lange zog der Reisende durch die Stadt, getrieben von wachem Schlummer, bis er vor Kälte und Müdigkeit zu frösteln begann, und die Laterne zu erlöschen drohte. Schließlich trat er, angezogen von einigen trüb in der Finsternis glimmenden Lampions, vor den Eingang einer Gaststätte und entschied sich, dort einzukehren.
Der Raum, den er betrat, war beinahe vollkommen leer; nur ein junges Mädchen stand auf der gegenüberliegenden Seite hinter dem Ausschank und trocknete Gläser mit einem gewürfelten Tuch. Mit vorsichtigen Bewegungen wischte sie die Kristallgläser aus und hängte sie dann an ein mit Haken versehenes Gitter aus eisernen Stangen, das über dem Ausschank angebracht war. Unzählige Gläser hingen dort bereits über ihr wie ein glänzendes Zelt, in dessen tausend Facetten sich das Rot ihrer Schürze spiegelte. Lichtreflexe zitterten über die vielen Gläser und die winzigen Spiegelungen ihrer Gestalt zuckten, als sie sich ein letztes Mal streckte und sich dann zu dem gerade Eingetretenen wandte.
Der Fremde kam zu ihr heran und fragte nach einem freien Zimmer. Als das Mädchen das Tuch weglegte und zu ihm aufschaute, blickte er ihr in die Augen und sah alles, ihre Vergangenheit und das Kommende. Sie war hier geboren, hatte ihr ganzes Leben an dieser Küste verbracht und würde sich auch niemals weit von den öden Ruinen am Stadtrand entfernen. Sie würde viel Freude und noch mehr Leid erleben und schließlich jung sterben, begraben werden, nicht unweit der kargen Felder vor der Stadt, und für immer unter den dichten Nebeln ruhen.
Sie bot an, ihm ein freies Zimmer zu zeigen, entzündete eine schlanke Kerze und führte ihn eine enge Treppe empor. Als die beiden schließlich ganz oben am Ende der kreuz und quer hinaufstrebenden Stufen angekommen waren, wies sie ihm eine verwinkelte Dachkammer mit einem kleinen Mansardenfenster und einem schmalen Bett. Der Reisende legte den Koffer auf die gestrichenen Dielen.
Als das Mädchen gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, löschte der Reisende das Licht und legte sich in das Bett, ohne zuvor seine Habe ausgepackt zu haben; er würde nicht verweilen können. Aus den Ecken der Kammer drang die Dunkelheit auf ihn ein, er glaubte, ein schwaches Rascheln und Knistern zu hören. Er wollte sich erheben, wollte ein Licht entzünden, doch war es bereits ausgetan, er durch seine Regungslosigkeit wie an das Bett gebunden, gänzlich unfähig, sich zu rühren. Er verzagte und ließ es geschehen, gab sich dem Flüstern des Schlafes hin, um kurz darauf von leise aus den Ecken der Kammer heranflatternden Träumen umfangen zu werden, die sich schwer auf seine Brust legten.
Seine Augen fielen ihm zu und er sank in wabernde Träume, in denen er der Gatte des jungen Mädchens war. Da stand sie, sicher im bernsteinfarbenen Licht unzähliger Kristallgläser, umspielt von gelbem Schimmer. Dennoch kam der Tod, ließ sie, noch immer mit ihrer roten Schürze am Leib, in die Erde hinab sinken, während die Farbe aus ihren Wangen wich, und die Gräser auf den Feldern um sie wogten sanft im Wind. Der Reisende wollte es nicht, er wünschte, am Gottesacker neben ihr begraben zu werden, doch man gestattete es ihm nicht und legte ihn stattdessen auf eines der kleinen Boote, die am Hafen auf und ab schaukelten. Dort lag er, ohne sich zu rühren, das Gesicht benetzt von der salzigen Gischt, und die schwarzen Wellen trieben ihn langsam auf das offene Meer hinaus.
The Elagabal in the North
By Christian Lenau
Dusk already approached when the traveler arrived in the small coastal town. Dense fog had rolled in from the sea and settled over the fields. The evening silence was broken only by the occasional snorting of the horses, which, exhausted from the long journey, hung their heads and, slowly pulling the carriage behind them, followed the twists and turns of the road. On this road, which was actually no more than a well-trodden path half overgrown with heather, the carriage finally stopped. As the iron-shod wheels of the carriage came to a halt, the traveler took his suitcase and coat from the back seat of the carriage, pulled his hat over his face, and stepped out of the narrow cabin into the cold air. The falling dusk caused the landscape to melt before his eyes into a rigid structure of gray shadows. The dimly lit windows of the town beyond the gray stubble fields danced behind the wisps of mist hanging from the sky, glinting luringly at the stranger.
After a brief moment of pausing and gazing across at the town, the traveler approached the gaunt coachman sitting stiffly on the trestle of his vehicle, paid him off, and had a lantern handed down to him. Armed with it, the traveler took a few steps back until he almost stood in the field, returned the coachman's curt words of farewell, and watched as he turned his team and drove away. Only when the carriage had disappeared into the darkness and the creaking of the axles as well as the snorting of the horses was swallowed up by the thick fog and slowly faded away, did the traveler turn back towards the city and start moving.
Soon he had reached the houses towering gloomily in the sea of clouds billowing above him. They were crumbling buildings with small windows and steep roofs that curved at unbelievable angles, as if they were just waiting for the next storm that would sweep away all their shingles and splinter the rotting beams.
The traveler carried his suitcase through the empty streets and raised the lantern in front of him to keep away the approaching darkness. He wandered aimlessly through narrow alleys, passed stone archways and climbed up damp steps to the upper town. After wandering uphill and downhill again for a while, he finally came upon the port and walked along the quays where small boats danced on the black waves that beat against the moss-covered harbor wall with a soft gurgle. He felt as if there was a desperate wailing in the breeze that blew from the sea, which rang in his ears like the cries of a newborn child.
For a long time, the traveler wandered through the city, driven by wakeful slumber, until he began to shiver with cold and fatigue, and the lantern threatened to fade. Finally, attracted by some lanterns glowing dully in the darkness, he stepped in front of the entrance of an inn and decided to set in there.
The room he entered was almost completely empty; only a young girl stood on the opposite side behind the bar, drying glasses with a chequered cloth. With careful movements, she wiped out the crystal glasses and hung them on a hooked grid of iron poles placed above the bar. Countless glasses were already hanging there above her like a shiny tent, reflecting the red of her apron in its thousand facets. Reflections of light trembled across the glasses and the tiny reflections of her figure twitched as she stretched one last time and then turned to the man who had just entered.
The stranger approached her and asked for a vacant room. As the girl put away the cloth and looked up at him, he looked into her eyes and saw everything, her past and what was to come. She had been born here, had spent her entire life on this coast, and would never stray far from the barren ruins on the outskirts of town. She would experience much joy and more sorrow, and eventually die young, buried not far from the barren fields outside the city, resting forever beneath the dense mists.
She offered to show him to a spare room, lit a slender candle, and led him up a narrow staircase. When the two finally reached the top of the crisscrossing steps, she directed him to a winding garret with a small attic window and a narrow bed. The traveler laid the suitcase on the painted floorboards.
When the girl had gone and closed the door behind her, the traveler turned out the light and lay down in the bed without unpacking his things first; he would not be able to stay. From the corners of the chamber the darkness surged to him, and he thought he heard a soft rustling and crackling. He wanted to get up, wanted to light the candle once more, but it had already gone out, by his motionlessness he was tied to the bed, unable to move. He despaired and let it happen, surrendered to the whisper of sleep, only to be embraced by dreams fluttering softly from the corners of the room, resting heavily on his chest.
His eyes fell shut and he sank into wafting dreams in which he was the husband of the young girl. There she stood, secure in the amber light of countless crystal glasses, surrounded by yellow shimmer. But death came and let her down into the earth, still wearing her red apron, while the color drained from her cheeks and the grasses in the fields around her swayed gently in the wind. The traveler did not want it, he wished to be buried in the cemetery next to her, but he was not allowed. Instead, he was laid on one of the small boats that bobbed up and down in the harbor. There he laid without moving, his face wetted by the salty spray, and the black waves slowly carried him out to sea.
Christian Lenau is a student of History and Literature at the LMU and is based in Munich. He is from Germany and speaks German, English and Italian.