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Das Sparbuch

By Fabian Zapf


Ob er das auch kenne, er schreibe ja schließlich gerne. Geschichten, mit denen sich die eigenen Gedanken spielerisch unterhalten. Ausgelöst von einem beliebigen Ereignis, sich dann aufbauschend zu maximaler Eloquenz, um sich schließlich in einer blass schimmernden Pointe andeutend zu verlieren. Ein Absatz in der Regel. Logisch konsistent und druckreif. Kurze, bündige Sinnhaftigkeit. Nach wenigen Sekunden aus dem Kurzzeitgedächtnis verschwunden. Nein, das kennt er nicht. Dafür aber viel mit visuellen Repräsentationen. Das kenne ich weniger. Eine Geschichte fließt aus einem Bild, und ist dann direkt im Kopf, so wie das Bild selbst. Dann wird geschrieben, möglichst detailgetreu, auch deswegen vielleicht gut, das wattierte Notizbüchlein immer mit dabei zu haben, so sagt er. Interessant also, das Ganze, bei mir jedoch anders. 


Plötzlich wieder in einer anderen Stadt. Ich laufe, denke an nichts Besonderes. Aus dem Nichts springt mich etwas an. Ein gebückter Mensch schleicht an mir vorbei. Morbus Scheuermann. Die Tragik ist hier ganz offensichtlich und kann mir daher wenig anhaben. Nein, viel subtiler muss es sein. Unscheinbare Tatsachen sind bekanntlich die schrecklichsten. Ich laufe an einer alten Frau vorbei. Sich über den Gehsteig schleppend, die Kleidung aus der Mode gekommen, wirkt sie altersbedingt verwirrt. Ihre Begleitung, eine Dame Mitte vierzig, hingegen hervorragend gekleidet, ein aufrechter Gang, klare Sprache. Dem Tonfall nach beschwichtigend. Etwas befällt mich unmittelbar, krallt sich in meinen Gedanken fest. Was habe ich gespürt? Fehlende Authentizität in Ihren Worten, obschon kaum etwas vernommen. Gerade einmal: “Ja Mensch, das ist echt schade. Aber jetzt haben wir das ja hinter uns.” Ich laufe weiter in meiner Menschenhülle, einzig der Geist ist jetzt wach. Er arbeitet. Was stört ihn an diesem Satz?  Das “wir”, so scheint es. Es ist nicht echt. Es gibt gar kein wir! Ich glaube es sofort, kann nicht recht sagen, warum. Ich überhole die beiden, laufe in zügigem Schritte weiter, gedanklich aber noch bei Ihnen. Die einseitig bedingte Distanz und Kühle zwischen diesen beiden Personen fährt mir ins Mark. Zwischenmenschlichkeit überschattet von Heuchelei und Kaltblütigkeit, Manipulationssucht und Geiz. 

Die arme Frau, sie hat wohl sonst niemanden, der sich um sie kümmert. Unter diesen Umständen ist sie geneigt, alles zu glauben, blind zu sein für jedes potenzielle Anzeichen, welches imstande wäre, die Skrupellosigkeit mit einer derben Wucht kaltherzig zu offenbaren. Ich, weiterlaufend, verblüfft, wie viel menschliche Tragik sich in einer so kurzen Szene ganz unverblümt zeigen kann, denke: Das Kopfkino muss aufhören. Die Vernunft schaltet sich glücklicherweise zur rechten Zeit wieder ein. Beide nur für den Hauch einer Sekunde gesehen. Ein flüchtiger Blick in beide Gesichter. Ein verlotterter Fetzen eines Satzes. Dann weitergelaufen. Viel zu wenig, um etwas wissen zu können. Genug also jetzt davon. Ich blicke auf die mittlerweile sonnengetränkte Straße, Frühlingsluft fließt durch die Stadt, ist überall und beflügelt die Menschen. Auch ich kann sie jetzt genießen. Wie schön doch alles ist, zu dieser Jahreszeit. Gerade möchte ich um die Ecke biegen, die zwei Damen bereits ein gutes Stück von mir entfernt. Aber ich muss stehenbleiben, mich umdrehen. Ein Blick noch, ein Satz, ein letzter Eindruck. Warum, weiß ich nicht. Dem eigenen Willen gehorsam bleibe ich schließlich stehen und blicke zurück. Der Satz: “Es gibt noch einen Teil deines Sparbuchs, den Du mir noch nicht überschrieben hast, wie sieht es denn damit aus?”. Die Antwort der alten Dame konfus. Ja, ja und so weiter. Und ich weiß, dass es stimmt. Dass ich es schon wusste, ohne irgendetwas zu wissen. Wochenlang sieht man nichts, und dann alles in Sekunden. Hier reißt der Faden ab. So ist das also mit den Geschichten. Alltägliches zeigt sich im Kostüm der Realität, Unscheinbares wird hell und klar, entblößt sich, und ist genau so, wie es eben ist. Daraus ergeben sich Geschichten. Geschichten, die das Leben erzählt, und die gleichzeitig das Leben selbst sind. Meistens ist man selbst woanders, sieht wenig, oder nichts. Lebt die Geschichten, aber an Ihnen—und somit an sich selbst—vorbei. Das ist es, worüber ich schreiben möchte. Fabian Zapf holds a Master’s degree in philosophy and currently works for Cognify in Salzburg instagram/nachtmusik_ sbg.

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