

The following piece is a literary translation of the painting Woman at the Window by Edgar Degas (above). Degas started the painting in January 1871 while Paris was under siege by the Prussian army.
Frau am Fenster Von Marvin Mathony
Schon immer war ich ein Bewunderer von Paris im Herbst. Doch ich weiß nun, dass der wahre Herbst einer Stadt sich erst im Belagerungszustand zeigt. Nichts macht die Endlichkeit so allgegenwärtig wie eine feindliche Armee vor den eigenen Toren. Die Wangen der Pariser Damen verloren die unbeschwerten Pastellfarben des Sommers und nahmen einen nach dem Leben greifenden rot-Ton an. Es mag seltsam erscheinen, dass mir dieser Art Gedanken während der Verteidigung von Paris durch den Kopf gingen, doch ich konnte mir nicht helfen. Nicht zuletzt führte dies zu einigen Verwerfungen mit meinem Kompaniechef bei der Nationalgarde, General Vichou, der bei mehr als einer Gelegenheit zu sagen pflegte, dass es unmöglich sei, Paris mit einer Horde von romantisierenden Landschaftsmalern zu verteidigen. Ich muss gestehen, ich gab ihm Recht. An jenem Tage, von dem hier die Rede sein soll, kam ich eine halbe Stunde zu spät zum Schießtraining an der Chassepot. Mein Freund Patrice begrüßte mich auch gleich entsprechend. „Ah, da ist ja der feine Herr. Guter Speck und feiner Kaffee am Morgen brauchen nun einmal ihre Zeit. Dafür haben wir hier alle natürlich vollstes Verständnis.“ Was er mit wir alle meinte, war mir nicht ganz klar, denn es war außer ihm und mir noch fast niemand da. Es war gang und gäbe, dass die Soldaten eine halbe Stunde, oder mehr, zu spät zum Appell kamen, da die Lebensmittelsituation in Paris seit der Umzingelung der Stadt durch die Preußen miserabel war. Man sah es den Männern nach, wenn sie morgens für sich und ihre Familie erst einmal versuchten etwas zu Essen aufzutreiben. Er hatte jedoch Recht, dass ich zu jener Zeit nicht zu einem solchen Schicksal verurteilt war. Mein Vater hinterließ mir eine nette Rente und meine Bilder begannen vor dem Krieg an Popularität zu gewinnen. Nachdem der Großteil der Truppe sich versammelt hatte, begannen wir den Tag mit Schießtraining. Ich war darin überraschend schlecht und seit einigen Wochen quälte mich nun deshalb der Gedanke, dass etwas mit meinen Augen nicht stimmte. Entsprechend versuchte ich einfach nur diesen Teil des Tages hinter mich zu bringen und die Häme meiner Kameraden zu ignorieren. Das gelang mir mal besser und mal schlechter. An diesem Tag jedoch konnte mich nichts so leicht aus der Fassung bringen, denn ich hatte gegen Nachmittag noch eine Verabredung mit einer reizenden jungen Tänzerin. Die letzten Tage hatte ich mich gründlich darauf vorbereitet, denn ich wollte mich nach unzähligen Ballerina Studien nun endlich meinem Gaugamela, dem Spagat, widmen. Dies war eine nicht ganz triviale Angelegenheit, da den Spagat einzufangen bedeutete dem Werk eine Mischung aus Statik und Bewegung einzuhauchen. Mein Plan war es die gestreckten Beine als ruhenden Fluchtpunkt zu gestalten, während die Arme sich noch im Prozess befanden über dem Kopf der Ballerina einen Halbkreis zu formen. Die Tänzerin sollte sich im rechten Drittel des Bildes befinden, nicht in der Mitte. So konnte sich der Betrachter ihre weiteren Bewegungen im Raum vorstellen.
Es waren damals nicht die schönsten Bedingungen, um im freien Felde zu üben. Ich wäre sogar so weit gegangen die Taktikschulungen in der Akademie zu bevorzugen, so unwirtlich war das Wetter. Dazu kam natürlich der fortwährende Artilleriebeschuss, doch daran hatten wir uns alle bereits seit langer Zeit gewohnt. Vichou korrigierte uns an diesem Tag jedoch so akribisch wie man ihn selten erlebt hat und ließ uns elendig lang „Beziehung mit der Chassepot aufnehmen“. Auch fand er die kreativsten Beleidigungen für unsere Nutzlosigkeit und war insgesamt viel engagierter als sonst. Wir standen stundenlang im Regen und schossen uns die Finger wund. Nachdem die Drills irgendwann endlich zu Ende waren, ging ich völlig durchgenässt und mit einem flauen Gefühl im Magen zur Tanzschule. Vichou wirkte angespannt, was mir nicht sonderlich gefiel. Ich fragte mich, ob der Einmarsch der Preußen unmittelbar bevorstand.
Als ich ankam, holte auch mich der Krieg mit all seiner Grausamkeit ein. Die Schule mitsamt einiger Tänzerinnen war von der preußischen Artillerie getroffen worden. Man war gerade dabei die toten aufzubahren und nach Überlebenden zu suchen. Keine zehn Meter entfernt von mir lag Madame Margaret, eine strenge, aber faire, alte Ballerina, die sich in jüngeren Jahren einen Namen im Pariser Ballett gemacht hatte. Sie war eine Befürworterin meiner Studien und ließ mich stets gewähren. Ihr Oberkörper lag nun nicht weit von mir, ihre Augen erloschen. Ihre Beine, sofern sie noch existierten, lagen an einem anderen Ort. Ich musste mich hinsetzen und den Mageninhalt zurückhalten, der sich auf direktem Wege nach oben befand. Mir wurde in diesem Moment erst bewusst, wie wichtig dieser Mageninhalt in den nächsten Tagen noch werden könnte. Während ich also versuchte mich beisammenzuhalten, hörte ich eine leise, zittrige Stimme hinter mir „Es ist alles verloren.“ Als ich mich umdrehte, erblickte ich die junge Dame, mit der ich mich in der Tanzschule verabredet hatte. Ich entgegnete mechanisch „Na na, wir leben nun einmal in dramatischen Zeiten. Freuen Sie sich, dass Sie überlebt haben mein Liebes. Wir werden es den Preußen schon noch heimzahlen, dessen können Sie sich gewiss sein.“ Meine Worte verhallten im luftleeren Raum. Die Tänzerin war völlig hilflos und sah halb verhungert aus. Ich beschloss mich an die vorherige Absprache zu halten und lud sie zu mir nach Hause ein, um sie dort zu zeichnen. Im Angesicht der Vernichtung, die an diesem Ort ihr Unwesen getrieben hat, und noch in der Luft hing, war sie sichtlich brüskiert bei diesem Vorschlag. Sie konnte dann aber wohl die Aussicht auf eine Bezahlung nicht ausschlagen und begleitete mich. Auf dem gesamten Weg zu meiner Wohnung sagte sie kein einziges Wort. Ich vermochte sie nicht aus ihrer Stille zu entführen, auch wenn ich es einige Male mit Bemerkungen zum Wetter und Beschimpfungen über die Preußen versuchte.
Als wir in die Wohnung eintraten, sah ich, dass ich noch ein ordentliches Stück Speck übrig hatte und beschloss sie damit zu bezahlen. Dieser Tage war Essen wertvoller als Geld. Während sie aß, wollte ich mir Gedanken machen, welche Pose ich ihr nach den Ereignissen des Tages zumuten konnte. Sie stürzte sich selbstvergessen auf den Speck und ich zog mich in meinen Sessel im Schlafzimmer zurück, zündete meine Pfeife an und dachte nach. Ich weiß nicht mehr wie lange ich dort saß und mir Positionen überlegte, in denen ich sie malen konnte. Ein Spagat schien in ihrem Zustand nicht mehr angemessen. Mir wollte jedoch nichts Besseres einfallen und das ganze kam mir plötzlich wie eine schreckliche Idee vor. Ich entschloss mich, sie zurück nach Hause zu schicken.
Als ich wieder in den Salon trat, sah ich sie dort, an einem Fenster sitzend, den Körper pflichtbewusst zum Raum hingewandt, den Blick jedoch über die Schulter, aus dem Fenster und über die Dächer von Paris hinaus, vorbei an den permanent lodernden Feuern und den Schreien aus allen Teilen der Stadt. Wer weiß wo sie hinblickte. Vielleicht in Richtung fröhlicherer Zeiten, vielleicht bat Sie in ihrer Verzweiflung den Winter sich zu beeilen diesen härtesten aller Pariser Herbste abzulösen. Der Kontrast ihrer in sich gekehrten, verletzlichen Silhouette vor einer explodierenden Welt brachte einen Schatten der Anmut ihres Traums in diesen Terror von Realität. In dem Donnerhagel der preußischen Artillerie beschloss ich also die junge Tänzerin an meinem Fenster zu malen. Sie bemerkte nicht, dass ich zurück in den Raum gekommen war und noch viel weniger war ihr bewusst, dass ich sie malte. Ich dachte nicht mehr an theoretische Überlegungen zu Bewegung, verlor überhaupt jeden konkreten Gedanken. Ich malte wie in Ekstase. Die Zeit schien still zu stehen und doch drohte mir der Moment mit jedem Pinselstrich zwischen den Fingern zu zerrinnen. Die Umgebung hatte keine Kontur, meine Augen nahmen keine Details mehr wahr, denn das war nicht mehr wichtig. Und sollte alles andere im Kanonenfeuer untergehen, diese eine kurze Schönheit konnte mir nicht mehr genommen werden.
Woman at the Window By Marvin Mathony
I have always adored Paris in autumn. But now I know that a city’s true autumn only reveals itself under siege. Nothing makes finality more ubiquitous than an enemy army the gates. The cheeks of Parisian women lost their carefree pastel colors of the summer and took on red glow that clamored for life. It may seem strange that these thoughts would be running through my head while defending Paris, but I couldn’t help myself.
This disposition led to some confrontations with my company commander in the National Guard, General Vichou, who complained on more than one occasion that it would be impossible to defend Paris with a bunch of romanticizing landscape painters. I must confess, I agreed with him.
On this day I arrived half an hour late for shooting practice at the Chassepot. My friend Patrice greeted me accordingly. "Ah, there’s our fine gentleman. Good lard and fine coffee in the morning do take their time. Naturally, we all wholeheartedly sympathize."
What he meant by we all was not quite clear to me, as hardly anyone was there except for the two of us. It was common for soldiers to be half an hour or more late for roll call, because there was a dire shortage of food in Paris since the Prussians had surrounded the city. The men were forgiven for trying to find food for themselves and their families first thing in the morning. He was right, however, that I was not doomed to such a fate at that time. My father left me a sizeable pension and my paintings had begun to gain popularity before the war.
After most of the troops had assembled, we began the day with marksmanship training. I was surprisingly bad at it, and for several weeks now I had therefore been tormented by the worry that something was wrong with my eyes. Accordingly, I just tried to get this part of the day over with while ignoring the gloating of my comrades. I succeeded, at times better and at times worse. On this day, however, nothing would so easily upset me, for I had an appointment with a lovely young dancer in the afternoon.
The last few days I had prepared myself thoroughly for this occasion; after countless ballerina studies I had finally decided to dedicate myself to my Gaugamela, the splits. This was no trivial matter, because capturing the splits meant breathing a mixture of static composure and movement into the work. My plan was to make the outstretched legs a resting vanishing point, while the arms were in the midst of forming a semicircle above the ballerina’s head. The dancer was to be in the right third of the picture, not in the center. This way the viewer could imagine her further movements in through this space.
Conditions were not ideal for practicing in the open field at that time. I would have even gone so far as to prefer the tactical training in the academy, the weather was so inhospitable. On top of that, of course, there was the constant artillery fire, but we had all gotten used to that a long time ago. However, Vichou corrected us that day as painstakingly as one has rarely seen him and made us "relate to the Chassepot" for a miserably long time. He also found the most creative of insults for our uselessness and was overall much more eager than usual. We stood in the rain for hours and shot until our fingers were sore. After the drills had finally ended, I left for the dance school completely soaked and with a sinking feeling in my stomach. Vichou seemed tense, which I didn’t particularly like. I wondered if the Prussian invasion was imminent.
When I arrived, the war and all its cruelty finally caught up with me too. The school, including some dancers, had been hit by Prussian artillery. They were in the process of laying out the dead and searching for survivors. Not ten meters away from me lay Madame Margaret, a stern but fair old ballerina who had made a name for herself in the Paris ballet during her younger days. She had always supported my studies. Her upper body now lay not far from where I stood, her eyes extinguished. Her legs, if they still existed, were in another place. I had to sit down and focus so as not to lose the contents of my stomach. I only realized at that moment how important that nutrition might become in the days to come. While I was trying to hold myself together, I heard a soft, shaky voice behind me
"All is lost."
As I turned around, I caught sight of the young lady I had arranged to meet at the dance school. I replied mechanically
"Well, now, we live in dramatic times. Be glad that you survived, my dear. We’ll get even with the Prussians, you can be sure of that."
My words died away in a vacuum. The dancer was completely helpless and looked half starved. I decided to stick to the previous agreement and invited her to my home to draw her there. In the face of the destruction that had wreaked its havoc in that place, and was still hanging in the air, she was visibly offended by the suggestion. Nevertheless, presumably not being able to turn down the prospect of payment, she accompanied me. She did not say a single word the entire way to my apartment. I was unable to break her silence, even though I tried a few times with remarks about the weather and insults about the Prussians.
When we entered the apartment, I saw that I still had a decent piece of bacon left and decided to pay her with it. These days food was more valuable than money. While she was eating, I wanted to think about which pose I could put her through after the day’s events. Famished, she started devouring the bacon, and I retreated to my armchair in the bedroom, lit my pipe, and started thinking. I don’t remember how long I sat there thinking of positions in which I could paint her. An acrobatic pose like the splits no longer seemed appropriate in her condition. However, I couldn’t think of anything better and the whole thing suddenly seemed like a terrible idea. I decided to send her back home.
When I stepped back into the salon, I saw her there, sitting at a window, her body dutifully turned toward the room, but her gaze over her shoulder, out the window and across the rooftops of Paris, past the permanently blazing fires and the screams from all across the city. Who knows where she was looking. Perhaps towards happier times, perhaps in desperation she was pleading for winter to hurry up and replace this harshest of Parisian autumns. The contrast of her introspective, vulnerable silhouette against an exploding world transported a shadow of the grace of her dream into this terrible reality. So, in the thunder of Prussian artillery, I decided to paint the young dancer at my window. She did not notice that I had come back into the room and she was even less aware of the fact that I was painting her. I no longer pondered theoretical considerations of movement, lost any concrete thought at all. I painted as if in ecstasy. Time seemed to stand still and yet the moment threatened to slip through my fingers with every stroke of the brush. The surroundings had no contour. My eyes no longer perceived details, because that was no longer important. And should everything else perish in the cannon fire, this one short beauty could no longer be taken from me.
Marvin Mathony studies Cognitive and Decision Sciences at University College London and likes to read, cook and be outdoors. He currently lives in London. (Insta: marvin_mthy)