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Das Stiegenhaus Von Fabian Zapf

Dass nun unbedingt so viel davon abhängen sollte, ob er den beschwerlichen Weg über diese verfluchte Stiege hinauf in den fünften Stock nehmen würde, oder ob er aus reiner Bequemlichkeit den Aufzugsknopf betätigte, das schien Herrn Walter als die spitzfindigste Gemeinheit überhaupt. War es doch eigentlich eine Banalität, ein nichtiger Gedanke, der sich jeden Tag aufs Neue aufdrängte, wenn er früh morgens das kalte Stiegenhaus betrat. Und dennoch schien es gar, als entschied sich hier das ganze Leben. In diesem ehrwürdigen Flur des alten Hauses, einem jahrhundertalten Relikt aus der Gründerzeit, gnadenlos komprimiert auf den bedeutungslosen Moment der Entscheidung. 


Warum kam es Ihm so unsagbar wichtig vor? Warum sich jeden Tag aufs Neue vor diese Entscheidung stellen? Stiege oder Aufzug? Mit jedem weiteren Tag, an dem er die durch abertausende Schritte abgenutzte Stiege unter seinen Schuhen spürte, gewann Herr Walter wieder etwas Zeit, konnte die Entscheidung wieder eine Armlänge von sich wegdrängen, hatte einen kurzen Moment, um durchzuatmen. Häufig musste er stehenbleiben und sich ausruhen. Die unzähligen Beamtenjahre hatten ihn zu einem hageren Mann gemacht, der Gang immer leicht gekrümmt, fast so, als trage er unsagbare Gewichte auf seinen Schultern. Und doch half es nichts. Man hatte immerhin einige Treppenstufen zu bewältigen, bis man in den fünften Stock gelangte.  Also nur weiter. 


Es dauerte nicht lange, dann waren sie wieder da. Diese seltsamen Gedanken. Inhaltslos, und doch bedeutsam. Gerichtet, ungerichtet. Zeitlos beständig, blitzschnell vergehend. Kurze Kuriositäten und endlose Assoziationsketten. Erinnerungen, haufenweise. Zweifel, Selbstgerechtigkeit. Freude, Hass. Stille, Lärm. Einsamkeit, Trubel. Alles überfordert. Herr W. muss sich am Handlauf festklammern.  Gebieterisch taucht sein Kreislauf das Sichtfeld in schwarzes Licht. Dann wieder hell. Es geht schon wieder. Nur weiter. Wo war er stehengeblieben? Ach ja, die Gedanken. Und wie lästig es ihm eigentlich war, die ganze Zeit denken zum müssen. Ja, das war es. Das Wort Nachdenken, allein das erschien ihm bereits als zugespitzte Parodie seiner  kümmerlichen Existenz. Als ob er sich jemals überhaupt auch nur die geringste Kleinigkeit eines einzigen Gedankens, den er gedacht hatte, selbst ausgesucht hätte. Den kleinsten Schnipsel davon, einen groben Fetzen, eine Idee, ein Wort, ein Bild. Nein, das war absurd. Und genau das war sie im Grunde auch schon, diese unsagbare Hässlichkeit, diese Lüge, die er so anstößig fand, und die ihn auf Schritt und Tritt verfolgte. Es war zum Verrücktwerden. Die Entscheidung stand aus.


Herr W. hatte sich wieder etwas beruhigt. Wie man denn darauf käme, so fragte er sich, das Denken in die Reihe der aktiven Verben einzugliedern, sei es doch eigentlich ein höchst passives Unterfangen, ja vielmehr ein Gedachtwerden, was sich da Tag ein Tag aus in den Köpfen der Menschen abspiele. Aber eigentlich war es sowieso einerlei, die Gedanken waren schließlich da. Also besser Frieden schließen. Aber wie? 

Plötzlich Stimmen. Es klingelt. Ein Aufzug mit Menschen, die sich mit einer gekünstelten Geselligkeit heiter unterhalten, ist soeben im fünften Stock angekommen. Herr Walter schaut ihnen mit müden Augen nach. Auch er ist oben angekommen. Die Tür wird geöffnet. Es ist fünf vor neun. Es ist längst Zeit.


Auch am nächsten Morgen alles wie gehabt. Eintritt ins Stiegenhaus. Trittschall im Flur. Der Versuch, dem unausweichlichen Gedanken zu entkommen. Der Gedanke. Sich wieder wehren? Sich wieder aufbäumen? Wahrscheinlich hasste er den Gedanken so, weil er wusste, dass es um weitaus mehr ging als die Frage nach der Stiege oder dem Aufzug. Es war eine Entscheidung, die es zu treffen galt. Die anstrengende Stiege oder der bequeme Aufzug. Kämpfen oder Untergehen. Leidvolles Leben oder lebloses Leiden. Eine lächerliche Metapher für das Leben selbst, und dennoch mit einer Überzeugungskraft, die Herrn W. bis ins Mark erschütterte. Ja, das Sisyphoshafte war ihm freilich nicht entgangen, aber genug davon. Wie grotesk das alles. Die komplexe Mannigfaltigkeit des Daseins, reduziert auf ein paar abgewetzte Stufen. Menschliche Hybris zerschellt am Granit. Ein eisiger Windstoß zieht durch das Stiegenhaus. Oben wird eine Tür geschlossen. Es ist Zeit. Herr W. muss wieder in den fünften Stock. Und er muss sich endlich entscheiden. Herr W. geht einen Weg, den schon viele vor Ihm gegangen sind. Noch oft wird er die glatten Stufen unter seinen Füßen spüren, noch oft den mühsamen Anstieg auf sich nehmen. Dem Stiegenhaus ist es alles ganz gleich, Herr W. weiß das.

The Staircase By Fabian Zapf

It seemed to Herr Walter the most devious cruelty of all — that so much should depend on whether he would take the straining way up those damned stairs to the fifth floor, or whether he would simply use the elevator out of sheer convenience. After all, it was a banality, a trivial thought that forced itself upon him anew every morning when he entered the cold hallway. And yet it seemed as though his whole life was decided here. In this solemn hallway of the old house, an ancestral relic from a bygone era, mercilessly compressed into the meaningless moment of decision.

Why did it seem so unspeakably important to him? Why face this decision again and again every day? Stairs or elevator? The staircase had already been worn out by thousands of indifferent steps. Every time he felt yet another step under his soles, he gained some time, was able to push back the decision by another arm’s length, had a fleeting moment to breathe. Numerous times he had to stop and rest. The countless years of civil service had turned him into a gaunt man, his gait ever so slightly hunched, almost as if he carried invisible weights on his shoulders. But it didn’t help. After all, there were still quite a few stairs to climb before reaching the fifth floor. So better keep going.


It didn’t take long before they were there again. Those strange thoughts. Devoid of content, and yet significant. Directed, undirected. Timelessly persistent, passing away in a flash. Short curiosities and endless chains of associations. Memories, heaps of them. Doubt, self-righteousness. Joy, hatred. Silence, noise. Loneliness, turmoil. Everything overwhelms. Herr W. has to grab hold of the handrail. His bloodstream drowns his field of vision in blackness. Then brightness again. It’s seems to be fine again. Just keep going. Where did he leave off? Oh yes, the thoughts. And how annoying it actually was for him, constantly having to think. Yes, that was it. The word "thinking" alone seemed to him to be a poignant parody of his miserable existence. As if he had ever chosen for himself even the smallest snippet of a single thought that he had thought. The tiniest fragment of it, a crude shred, an idea, a word, an image. No, that was absurd. And that’s what it basically amounted to, this unspeakable ugliness, this lie that he found so offensive, and that haunted him at every turn. It was maddening. The decision was pending. Herr W. had calmed down a bit. How could one even consider, he asked himself, to include thinking in the set of active verbs, since it was actually a highly passive undertaking, or rather a being-thought that was going on in people’s heads day in and day out. In any case, it didn’t matter, the thoughts were there. It was better to find one’s peace with them. But how? Suddenly voices. The doorbell rings. An elevator full of people talking with contrived joy has just arrived on the fifth floor. Herr Walter looks after them with tired eyes. He, too, has reached the top. The door is being opened. It is five to nine. It is long past time. The next morning, too, everything is as usual. Entry into the hallway. The sound of footsteps on the staircase. The attempt to escape the inevitable thought. The thought. Resistance again? Rising up again? He probably hated the thought so much because he knew it was about much more than the question of the stairs or the elevator. It was a decision that had to be made. The arduous staircase or the comfortable elevator. To fight or to perish. Suffering life or lifeless suffering. It was a ridiculous metaphor for life itself, and yet it had persuaded Herr W. and shaken him to the core. Yes, the Sisyphean aspect had not escaped him, of course, but enough of that. How grotesque it all was. The complex manifoldness of existence, reduced to a bunch of worn-out steps. Human hubris shatters on granite. An icy gust of wind passes through the stairwell. A door is closed at the top. It is time. Herr W. has to go back up to the fifth floor. And he finally has to make a decision. Herr W. takes a path that many have taken before him. He will often feel the slippery stairs under his feet again, often take on the arduous ascent. The staircase is indifferent, Herr W. knows that very well. Fabi holds a Master's degree in philosophy and currently works for Cognify in Salzburg. In his free time, you will either find him behind the decks with his music collective Nachtmusik, riding his fixie along the Salzach river or hiking in the alps. (Insta: nachtmusik_sbg)

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